Es ist Mittwochabend und in Londons wichtigstem Knotenpunkt, der U-Bahn-Station King's Cross, herrscht reges Treiben. Der Bahnhof unterhalb der Hauptbahnhöfe King's Cross und St. Pancras wurde damals als einziger von fünf Linien bedient. Hunderte Menschen befinden sich im Bahnhofskomplex. Während der Hauptverkehrszeit passieren rund 30.000 Menschen pro Stunde King's Cross. Um 19.45 Uhr ereignete sich hier an diesem Abend eine der schlimmsten Katastrophen in der Geschichte der Londoner U-Bahn.
Ein Passagier, der auf einer der hölzernen Rolltreppen steht, beobachtet ein flackerndes Licht zwischen den Stufen. Als er oben am Schalter ankam, sprach er mit einem Bahnangestellten, um ihm davon zu erzählen. Aber wenn er nach unten schaut, kann er nichts sehen. "Ich habe mich ziemlich dumm gefühlt", sagte der Mann in einer Dokumentation von National Geographic, "weil es nichts zu sehen gab."
Gegen 19.30 Uhr drückt ein weiterer Mann den Not-Aus-Knopf für die Rolltreppe zur Piccadilly Line. Ein britischer Verkehrspolizist, der den Vorfall untersuchte, entdeckte eine kleine Flamme auf einer der Holzstufen. Keine große Überraschung für den Mann: In den letzten drei Jahrzehnten gab es in der veralteten Londoner U-Bahn mehr als 400 Brände. Per Funk alarmiert er die Feuerwehr. Die Rolltreppe wird weiter unten abgesperrt. Gegen 19.40 Uhr beschloss die Polizei, die Station zu evakuieren.
Nur drei Minuten später sind die Rettungsdienste vor Ort. Das Feuer ist mittlerweile so groß wie ein Lagerfeuer, weshalb die Feuerwehr glaubt, es schnell unter Kontrolle zu bekommen. Hunderte Fahrgäste werden nun von Polizisten aus dem Bahnhof geführt, einige von ihnen mit der einzigen funktionierenden Rolltreppe der Victoria Line, die parallel zur Rolltreppe der Piccadilly Line verläuft und zu derselben Stelle nach oben in die Tickethalle führt. Da jedoch niemand die Zugsteuerung über die Evakuierung informiert, gelangen immer mehr Fahrgäste in den Bahnhof.
Dann verwandelt sich das zuvor kleine Feuer plötzlich in ein Inferno. Flammen schießen wie ein Flammenwerfer die Rolltreppe hoch. Sie legen zwölf Meter pro Sekunde zurück und erfassen Dutzende von Menschen in der Schalterhalle. Aus dem Ausgang strömt dichter Rauch auf die höher gelegene Straße. Wo noch vor kurzem Polizisten Fahrgäste die einzige funktionierende Rolltreppe hinaufgeschickt haben, halten sie jetzt die einfahrenden Züge an. Oben taumeln Feuerwehrleute, die gerade in den Bahnhof gestürmt waren, wieder nach draußen, weil Hitze und Flammen ihnen den Weg versperrten. Manche Passagiere flüchten panisch auf die Toiletten, andere kriechen auf dem Boden zu den Treppen, die auf die Straße führen. Doch wegen der Hitze und des beißenden, dicken Rauchs haben viele keine Chance zu entkommen. Erst um 1:46 Uhr am nächsten Morgen war das verheerende Feuer endgültig gelöscht.
31 Menschen kommen bei dem schweren Unfall ums Leben, weitere 20 werden schwer verletzt. Das jüngste Opfer ist sieben Jahre alt. Nach dem Unfall wurde der U-Bahnhof komplett zerstört: Die Decke stürzte teilweise ein, die Fliesen rissen von den Wänden und die metallenen Fahrkartenautomaten schmolzen.
Spätere Untersuchungen ergaben, dass ein brennendes Streichholz möglicherweise große Ansammlungen einer Mischung aus Müll und Fett unter der Rolltreppe in Brand gesetzt hat. Bereits zwei Jahre zuvor war ein Rauchverbot an U-Bahnhöfen erlassen worden. Auch an der 50 Jahre alten Rolltreppe gibt es Spuren, die darauf hindeuten, dass es in der Vergangenheit 18 unentdeckte kleinere Brände gegeben hat.
Um genau herauszufinden, wie sich die Flammen so schnell ausbreiten konnten, wird wenige Monate später ein exaktes Modell der Rolltreppe in einem Feld mit den gleichen Materialien nachgebaut und gezündet. Es stellt sich heraus, dass die 30 Grad Neigung der Treppe dazu führt, dass sich die Flammen auf den Stufen niederschlagen. Die Seitenwände der Fahrtreppe wirken wie ein Kanal, der Hitze und Flammen bündelt und deren Austritt verhindert. Das Feuer schiebt eine unsichtbare Wand aus Hitze und Gas vor sich her, die von unten einen meterlangen Abschnitt der Holztreppe aufheizt, der sich plötzlich entzündet. Die Ermittler nennen das Phänomen "Grabeneffekt".
Als Folge des Unfalls wird unter anderem der Austausch aller hölzernen Fahrtreppen und eine strengere Überwachung des Rauchverbots angeordnet.
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